Buch: Freitagsgeschichten zum Wachbleiben
Die Pupsertät
Manchmal lief bei uns zu Hause die „stille Post“. Nein, wir spielten nicht „stille Post“, sondern sie „passierte“ einfach. Unlängst fragte mich meine Große aufgrund eines Liedtextes, was das Wort „Pubertät“ bedeutete.
Ich erklärte es ihr, so gut ich konnte. Ich redete von dem „Erwachsenwerden“, das nicht so einfach war. Von den Hormonen. Und von den unvermuteten Gefühlsausbrüchen, die schon einmal (ja genau, einmal! Ha, ha!!) vorkommen konnten. Nachdem meine Tochter gerade in einer Phase steckte, in der sie auch des Öfteren unkontrollierte Gefühlsausbrüche hatte, fragte sie mich, ob es denn das schon war. Ich antwortete ihr, dass die Pubertät meist erst nach dem 11. Lebensjahr begann, aber dass es sehr wohl eine Art Vorpubertät gäbe. Und um das Thema schnell abzuhaken, weil gerade die Jüngste vom Sessel gefallen war und weinte, fügte ich rasch und abwiegelnd hinzu, dass ich aber glaubte, dass ihre Weinattacken im Moment eher auf das Ende der Ferien und den herannahenden Schulbeginn zurückzuführen waren (zumindest waren das die Beweggründe für meine derzeitige Laune). Sie begnügte sich vorerst mit dieser Antwort.
Nach einer Weile kam sie, dicht gefolgt von ihren kleineren Schwestern, wieder in den Raum und fragte: „Wenn ich diese Vorpumpertät habe, krieg ich sie dann später nicht?“ Ich konnte mir ein Lachen nicht verhalten. Ich sagte: „Schatz, das Wort heißt anders und ist ja keine Krankheit.“ Ihre mittlere Schwester nickte und brüllte: „Ha, ha, ich weiß es. Ich habe es mir gemerkt, das richtige Wort. Bitte darf ichs sagen!? Es heißt Vorpopotät.“ Stolz blickte sie in die Runde. Ich lachte noch mehr. Die Jüngste drehte sich im Kreis und sang: „Pupsertät, Pupsertät!“
Wie sollte ich jemals ernste Antworten auf ernste Fragen geben, wenn sich diese als Slapstick tarnten?!!
Auszug aus dem Buch: Gut gekühlt ist fast geerbt
Sie ging zielstrebig auf eine Tür zu, auf der groß „Bestattung Mayerhofer“ stand, und klopfte an.
Nach ein paar Sekunden hörte man Sesselrücken, und ein hagerer Mann Mitte Fünfzig steckte den Kopf zur Tür heraus. Er musterte die beiden Frauen. „Grüß Gott, die Damen. Was kann ich für Sie tun?“
„Grüß Gott, Herr Mayerhofer. Ich bin mit meiner Freundin, Frau Thaler, gekommen. Ihre Mutter ist sehr krank, und Frau Thaler möchte schon vorab alles für die Beerdigung vorbereitet haben, wenn es so weit ist.“
„Aha, ja, dann kommen Sie doch bitte herein.“ Er öffnete die Tür und ließ sie eintreten. Dann bot er ihnen die beiden einzigen Sessel, die vor dem Schreibtisch standen, an. Der Raum war kahl. Nicht ein Bild hing an den Wänden. Wäre nicht ein großes Fenster offen gestanden und ein Teppich am Boden gelegen, hätte er auch als Gefängniszelle durchgehen können.
„Was haben Sie sich denn vorgestellt, Frau Thaler?“ Der Beamte wirkte nicht im Mindesten neugierig oder auch nur interessiert.
Helene wirkte irritiert. „Wie vorgestellt? Ich wollte einfach wegen der Beerdigung ein paar Fragen beantwortet haben.“
Das wiederum irritierte den Bestatter. „Ein paar Fragen? Zur Vorgehensweise, wenn Ihre Frau Mama gestorben ist?“
Helene, die sich beherrschen musste, bei den Worten „Frau Mama“, die sie höchstens aus den Sissi-Filmen kannte, nicht lauthals loszulachen, nickte. „Genau, ich möchte wissen, was ich denn genau tun muss, wenn meine Schw… äh … Mutter stirbt. An wen wende ich mich, und wie geht es dann weiter?“
„Nun ja“, hob der Beamte an und schaute nachdenklich zu Rosa hin. „Frau Riedlberger hätte Ihnen die genaue Vorgehensweise ebenso erklären können wie ich, da sie ja vor Kurzem auch einen familiären Todesfall zu betrauern hatte.“
Helene und Rosa schauten sich verwundert an. Sie mussten dem Gespräch schnell eine andere Richtung geben, denn sonst war es hier und jetzt beendet.
Helene begann. „Wissen Sie, ich wollte meine Freundin“, dabei nickte sie in Rosas Richtung „nicht damit belasten, weil ihr Verlust noch so frisch ist. Außerdem hat meine Mutter furchtbare Angst davor, dass zwischen ihrem Tod und der Beerdigung zu viel Zeit verstreicht und sie womöglich … nun ja … sozusagen … sie zu stinken anfängt. Und dann die Leute über sie reden.“
Rosa starrte Helene entsetzt an. Der Satz „Was für ein Schwachsinn“ stand ihr ins Gesicht geschrieben, aber sie hatte ihre Mimik schnell wieder unter Kontrolle.
„Verstehe ich Sie richtig? Ihre Mutter hat Angst, dass sie sich auf ihrer eigenen Beerdigung blamiert?“ Herr Mayerhofer zog eine Augenbraue hoch.
Helene wurde rot. „Sie hat … äh … gibt sehr viel darauf, was die Leute über sie reden.“
Die Augenbraue wurde noch ein wenig höher gezogen. „Und das gilt auch noch, wenn sie schon tot ist?“
Rosa musste einspringen. „Natürlich nicht, aber wir wollen ihr die Angst nehmen, dass irgendetwas mit ihrer Leiche passiert, wenn sie tot ist. Sie will zum Beispiel wissen, ob Sie sie schminken und kühl aufbewahren. Und sie möchte auch nicht verwechselt oder gestohlen werden. Also würde es uns helfen, wenn Sie uns Auskunft darüber geben, ob Sie eigene Kühlfächer haben und ob die verschlossen sind. Oder ob in den Raum, in dem die Kühlfächer sind, eingebrochen werden kann.“In der Miene des Bestatters spiegelte sich Verwirrung, aber auch Ärger wider. „Ihre Mutter, Frau Thaler, hat Angst, dass sie zu stinken beginnt, verwechselt oder gestohlen wird, wenn sie tot ist?“
Helene zuckte entschuldigend mit den Achseln.
„Liebe Frau Thaler, liebe Frau Riedlberger. Um es kurz zu machen: Die Leichen werden von uns natürlich gekühlt aufbewahrt und adrett hergerichtet. Vertauscht oder gestohlen ist bis jetzt, soviel ich weiß, noch nie eine worden. Aber vielleicht hat Ihre Mutter ja vor, etwas ins Grab mitzunehmen, was so wertvoll ist, dass jemand auf den Gedanken kommen könnte, die Leiche zu stehlen. Ich persönlich würde von so einem Unterfangen – also etwas Wertvolles mit ins Grab zu nehmen – absolut abraten! Wozu sollte das auch gut sein? Abgesehen davon sind Grabbeigaben beispielsweise bei einer Einäscherung nur erlaubt, wenn sie brennbar sind. Bis jetzt haben die Sicherheitsvorkehrungen in unseren Kühlfächern also immer völlig ausgereicht. Der unangenehme Geruch der Verwesung beginnt spätestens im Grab sowieso, dringt aber vorher wegen der Kühlung nicht durch den Sarg – das sollte Ihre Mutter also nicht tangieren. Und nun würde ich Sie bitten zu gehen. Wenn Sie Fragen haben, die mich tatsächlich betreffen, bezüglich Sarg, Partezettel oder Kleidung, werde ich Ihnen gerne behilflich sein. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Mit diesen Worten wandte er sich von den zwei Frauen ab und schrieb geschäftig etwas in ein Notizbuch.
Aber Rosa gab noch nicht auf. „Wo werden Ihre Leichen denn aufbewahrt? Oben in der Leichenhalle beim Friedhof? Die ist ja immer offen, wenn eine Beerdigung ist, da könnte jeder rein!“
Herr Mayerhofer blickte nicht einmal mehr von seinem Schreibtisch hoch und ignorierte die beiden so lange, bis sie aufstanden und gingen.
Ein Auszug aus dem Buch: klein-groß-mittel
Stilldemenz
Angeblich gibt es so etwas wie eine Stilldemenz. Mir persönlich ist das bei den ersten beiden Kindern nicht aufgefallen und mein Umfeld hat mich möglicherweise geschont und mich nicht darauf hingewiesen, dass ich viele Dinge verstrudelt habe. Beim dritten Mädchen bemerkte aber sogar ich die vielen Ungereimtheiten in meinem Alltag. Diese Mischung aus nicht schlafen, viel stillen und noch zwei weiteren Kindern war ausschlaggebend für akute Vergesslichkeit und zunehmende Verwirrtheit.
Einmal etwa rief mich um 10 Uhr eine Freundin an und fragte, wo ich denn stecke. Ich hatte komplett vergessen, dass wir ausgemacht hatten, uns genau um diese Uhrzeit im Kaffeehaus zu treffen. Noch dazu hatten wir es um 8.30 Uhr desselben Morgens vereinbart.
Ich war konfus und konnte mich manchmal nach Beendigung eines Telefongesprächs nicht einmal mehr erinnern, mit wem ich gerade geredet hatte. Ich legte Batterien in den Kühlschrank (immerhin blieben sie frisch), bunkerte Salat in der Abstellkammer oder wollte für die Kinder Morgentee machen, doch kam ich nie über das Wasserkochen hinaus. Ich legte die Windel neben das Kind und wunderte mich später, dass das Bett nass war. Ich verwechselte Namen, und das bei Personen, die schon seit Längerem zu meinem engen Bekanntenkreis gehörten.
Mein Mann genoss diese Zeit, denn er war immerso. Er suchte ständig seine Sachen, die er dann an den unvorstellbarsten Stellen wiederfand. Nur: Jetzt konnte er mich dafür verantwortlich machen. Ich konnte nämlich beispielsweise nicht mit Sicherheit sagen, dass nicht ich seine Kappe auf den Badewannenrand zu den Seifen gelegt hatte oder sein Handy in den Kinderwagen. Aus der sehr strukturiert denkenden und bestens organisierten Frau war ein Chaotenbündel geworden, das schon froh war, wenn es beim Verlassen des Hauses an die Windeln und die Feuchttücher für das Neugeborene gedacht hatte. Ich hoffte inständig, dass dieser Zustand nur kurz anhielte und ich bald wieder mein früheres Ich zurückerlangen würde.
Meine größere Tochter half mir, wo es ging. Da sie aber wie ihr Vater die Kunst beherrschte, vor gesuchten Dingen zu stehen, hindurchzusehen und zu schreien: „Hier ist es nicht“, war die Hilfe eher mäßiger Natur. Ich verbrachte viel Zeit mit Suchen und Nachdenken darüber, was ich denn gerade suchte.
Den Höhepunkt aber fand das ganze Treiben darin, dass ich einmal mit Sack und Pack mit den Kindern das
Haus verließ und eine Gasse weiter bemerkte, dass der Kinderwagen leer war. Kommentarlos schleifte ich die zwei größeren Mädchen in die Wohnung zurück, um das Baby zu holen, nur um draufzukommen, dass ich das Baby im Tragesack umgehängt unter meiner Winterjacke natürlich mitgenommen hatte.
Ein Auszug aus dem Buch: Ein Leben in 23 Tagen
Es war auch verwunderlich, wie ruhig und gelassen ich mich fühlte trotz des Erlebnisses in der Trafik. Ich war nicht mehr panisch, nicht einmal sonderlich beängstigt. Ich fühlte mich ausgesprochen gut. Ich genoss den Spaziergang, dieses Wetter und empfand ein unglaubliches Gefühl von Freiheit. Zum ersten Mal seit Langem.
Ich schlenderte bis zu einem kleinen Zaun, öffnete das rostige Eisengitter und stieg auf einen kleinen Hügel hinauf zum dicksten und vermutlich ältesten Baum im gan-zen Park. Ich setzte mich, lehnte mich an den Baum, zog mir Schuhe und Socken aus und streckte meine Zehen Richtung Sonne. Ich atmete tief durch und fühlte wie sich meine Lungen füllten.
Dann nahm ich mein Buch zur Hand und schrieb hoch motiviert auf die erste Seite das Datum: „18. Mai“. Das Jahr ließ ich erst einmal weg.
Dann kritzelte ich noch „Im Park“ dazu. Und bevor ich noch eine Zeile hinzufügen konnte, passierte das: Ein Hund in der Größe eines mittleren U-Bootes näherte sich dem Baum und pinkelte mit der Schießkraft eines Hochdruckreinigers auf der anderen Seite dagegen. Gerade als ich aufspringen wollte, hörte ich schallendes Gelächter, das von irgendwo hinter diesem Riesen kommen musste. Ich verrenkte meinen Hals, um zu sehen, wer mich da so verspottete, und sah die kleinste Person, die mir je unter die Augen gekommen war. Kinder ausgenommen. Sie lachte so herzhaft, dass sie sich den Bauch halten musste.
Während ich noch überlegte, ob sie tatsächlich ein Mensch oder vielleicht doch eher eine Elfe oder ein Gnom war, rang sie nach Luft und setzte zu einem Satz an, der unter einer weiteren Lachsalve begraben wurde. Dann gelang es ihr, sich unter Kontrolle zu bringen, sie schaute mich mit riesigen Augen an und stammelte: „Entschuldigung. Konstantin hat Sie nicht gesehen. Aber normal ist das auch nicht, was Sie hier machen!“
Sie musste meinen ratlosen Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn sie setzte erneut an und fragte nun etwas lang- samer: „Verstehen Sie mich? Sind Sie von hier?“
Nachdem ich sie offenbar noch fragender angeglotzt hatte, immer noch nicht imstande zu verstehen, was sie meinte, begann sie, in – ehrlich gesagt eher mäßigem – Englisch, ihre Worte zu wiederholen, was sich ungefähr so anhörte: „Du je andaständ mi? A ju from hiiieeer?“
Da ich von jeher eine Aversion gegen schlecht artikulierte Sprache hatte, schickte ich mich rasch an, auf ihre Frage zu antworten: „Warum sollte ich nicht von hier sein?“
Worauf sie etwas dümmlich schaute und meinte: „Na, ich habe eben noch nie einen bloßfüßigen Mann in Designerkleidung in der Hundezone sitzen sehen.“
„In der was?“, hörte ich mich fragen. Wurde nun schon die Landschaft aus Platzmangel in Zonen für die einzelnen Lebewesen unterteilt? Oder hatte ich den Krieg der Tiere um die Vorherrschaft auf der Erde versäumt?
„In der H-u-n-d-e-z-o-n-e“, wiederholte sie, wobei sie das Wort so in die Länge zog, dass sie keinen Zweifel daran ließ, mich für bescheuert zu halten.
„Ich habe Sie akustisch schon verstanden. Nur was, bitte sehr, soll denn eine Hundezone sein?“
„Das sind, wie der Name schon vermuten lässt, die Bereiche im Park, die für Hunde vorgesehen sind. Hier dürfen diese ohne Leine und Beißkorb laufen, ohne dass der Besitzer gleich von irgendjemandem gelyncht wird.“ Und ohne auch nur einmal Luft zu holen, fügte sie grinsend hinzu: „Es ist ebenfalls der Platz, an dem die Hunde ungestört ihr Geschäft verrichten können, ohne dass sich jemand beschwert. Darum die vielen Häufchen, die so dekorativ Ihre Füße umgeben.“
Instinktiv zog ich die Füße an und blickte mich um. Sie hatte recht. Überall Hundehaufen in den unterschiedlichsten Formen und Farben. Auch der Geruch hätte mir schon früher auffallen müssen, denn jetzt war er beinahe unerträglich. Ich fummelte an meinen Socken herum, als sie erneut zu lachen begann.„Wann, bitte sehr, waren Sie das letzte Mal im Park und was machen Sie denn hier?“, fragte sie mich neugierig.
„Das eine ist schon so lange her, dass ich es nicht mehr genau weiß, und das andere kann ich nicht genau sagen. Ich glaube, ich suche mich selbst.“
Ohgottogott, wie klang denn das! Ich glaube, ich suche mich selbst! Demnächst suchte ich dann wohl den Engel meines höheren Bewusstseins!
„Tja“, meinte sie nur, „da hab’ ich es leichter, ich habe Sie ja schon gefunden, sogar ganz ohne zu suchen.“
Diese Antwort überraschte mich, und als ich sie länger betrachtete, fiel mir auf, dass dieses Mädchen eigentlich eine sehr hübsche Frau war. Wie gesagt sehr klein, sehr zierlich, mit kupferrotem kurzem Haar und einem etwas schiefen Mund, der sie aber eher noch entzückender machte.
Sie bemerkte, dass ich sie musterte, schaute mich mit einem beinahe süffissanten Lächeln an und sagte: „Ist das mit den Frauen auch so lange her wie mit dem Park? Kommen Sie direkt vom Planeten X oder aus dem Knast?“
Ohne etwas zu erwidern und peinlich berührt stand ich auf und wir spazierten nebeneinander aus der Hundezone.